Nachruf

Enrico Giusti

Zum Tod von Enrico Giusti

Am 26. März 2024 ist in Florenz der prominente Mathematiker und Wissenschaftshistoriker Enrico Giusti verstorben. Die Basler Bernoulli-Edition verliert mit ihm einen ihrer prominenten Editoren und einen langjährigen wissenschaftlichen Begleiter.

Enrico Giusti wurde am 28. Oktober 1940 in Priverno (Provinz Latium) geboren. Nach dem Studium der Physik und einer Tätigkeit am Kernforschungszentrum in Florenz wandte er sich der Mathematik und insbesondere der Analysis-Forschung zu. Nach Lehrtätigkeiten in Pisa und an der Universität von Aquila wurde er 1975 ordentlicher Professor an der Universität Triest. Von 1978 bis 1980 lehrte er an der Universität Pisa und ab 1980 an der Universität Florenz. Zahlreiche Aufenthalte verbrachte er als geschätzter Gastwissenschafter an der University of California, Berkeley, an der Stanford University, am Mittag-Leffler-Institut, am Institute for Advanced Study, an der Nankai-Universität in China und an der Universität Paris VII. Bei seinen mathematischen Forschungen befasste sich Giusti mit partiellen Differentialgleichungen, Variationsrechnung, Differentialgeometrie und Minimalflächen. Zusammen mit De Giorgi und Bombieri vervollständigte er die Lösung des Bernstein-Problems in der Differentialgeometrie der Minimalflächen im euklidischen Raum. Ab 1980 wandte sich Giusti vermehrt den Problemkreisen der Mathematikgeschichte, insbesondere der Analysis des 17. Jahrhunderts zu. Genannt sei hier vor allem sein Buch Bonaventura Cavalieri and the theory of indivisibles, Roma 1980. In zahlreichen Aufsätzen und Tagungsbeiträgen behandelte Giusti Fragen zu den Werken von Galilei, Torricelli, Descartes, Leibniz, Newton und der Bernoulli. Enrico Giusti war einer der Mitbegründer der Società italiana di storia delle matematiche (SISM) und langjähriger Herausgeber des Bollettino di Storia delle Scienze Matematiche. Als Mentor und Förderer motivierte er zahlreiche Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen Forschungen zur Mathematikgeschichte insbesondere im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts. Damit hat Giusti entscheidend zum eindrucksvollen Aufschwung der wissenschaftshistorischen Forschung in Italien beigetragen. Schliesslich war Giusti Mitbegründer des Projekts "Il giardino di Archimede", eines interaktiven Mathematikmuseums in Florenz, mit dem einem breiten Publikum die Freude an dieser Wissenschaft vermittelt werden sollte. In diesem Zusammenhang sei auch auf zwei für breitere Kreise gedachte Publikationen von Giusti hingewiesen, auf seine Piccola storia del calcolo infinitesimale dall’antichità al Novecento, Pisa u. a. 2007, sowie auf seine populäre Schrift La Matematica in Cucina, Torino 2004.

Für die Basler Bernoulli-Edition spielte Enrico Giusti in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Er gehörte erstens zu einer Gruppe internationaler Wissenschaftshistoriker, welche 1985 am Rande einer Tagung in Trento erfolgreich die Einrichtung einer Basler Forschungsstelle der Bernoulli-Edition durch den Schweizer Nationalfonds anregten. Zweitens erklärte er sich 1998 bereit, dem wissenschaftlichen Beirat der Bernoulli-Edition unter dem Präsidium des Basler Astronomen Gustav A. Tamman beizutreten. An den jährlichen Beiratssitzungen brachte Enrico Giusti fruchtbare Ideen ein und versuchte mit viel diplomatischem Geschick, zum Fortschritt der Editionsarbeit auch unter schwierigen Umständen beizutragen. Insbesondere vermittelt er wertvolle Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen aus dem Kreis der italienischen Wissenschaftsgeschichtsforschung. Schliesslich konnte Enrico Giusti zusammen mit Clara Silvia Roero von der Universität Torino eine Ausgabe von Werken vor allem von Johann I Bernoulli erarbeiten. Sie sind in einem Band mit dem Titel Die Werke von Johann I und Nicolaus II Bernoulli, Band 2, Mathematik II, enthalten. Dieser Band konnte erst 2019 dank der Initiative des Präsidenten der Bernoulli-Euler-Gesellschaft in der Reihe der Edition der Werke und Briefwechsel der Mathematiker Bernoulli erscheinen. Im Widerspruch zum vor langer Zeit festgelegten Reihentitel enthält der Band kein Werk von Nicolaus II Bernoulli. Er präsentiert vielmehr 17 mathematische Arbeiten von Johann I Bernoulli, darunter dessen zwischen 1680 und 1719 entstandenen handschriftlich überlieferten 120 Propositiones. Die Texte im zweiten Teils des Bandes betreffen die Rektifikation und Transformation von Kurven und weitere Themen der Differentialgeometrie. Zusätzlich sind in diesem Band einige damit zusammenhängende Texte von Tschirnhaus, Leibniz, Craig, Jacob Hermann und Klingenstierna publiziert. Enrico Giusti und Silvia Roero ermöglichen mit diesem Band somit einen spannenden Einblick in die Entwicklung der Differentialgeometrie vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen den Anhängern von Newton und Leibniz.

Die Basler Bernoulli-Edition verdankt Enrico Giusti, seiner wissenschaftlichen, wissenschaftshistorischen und editorischen Kompetenz sehr viel. Seine feinsinnige und umfassend gebildete Persönlichkeit wird uns allen stets in guter und dankbarer Erinnerung bleiben.

Fritz Nagel, 05. Mai 2024

Nachruf

Heinz-Jürgen Hess

Zum Tod von Heinz-Jürgen Heß

Heinz-Jürgen Heß war ein deutscher Wissenschaftshistoriker, Leibniz-Forscher und Leibniz-Editor. In Ahrweiler geboren studierte er nach dem Abitur 1960 Mathematik, Physik, Philosophie und Pädagogik in Bonn und München. In Mathematik und Physik legte er beide Staatsexamina ab (Schwerpunkt: Spezielle Funktionen). Danach promovierte er in Philosophie und Pädagogik (Schwerpunkt: Kantische Ethik). Forschungsschwerpunkte von Hess waren danach die Philosophie von Kant, vor allem aber das mathematische und wissenschaftliche Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Von 1976 bis 2004 war Heß Mitarbeiter an den ersten sechs Bänden der Edition von Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe (Hrsg. Berlin-Brandenburg. Akademie der Wissenschaften u. Akademie der Wissenschaften in Göttingen). Für die Bände 2 (1987), 4 (1995), 5 (2003) und 6 (2004) der Reihe Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel, zeichnete Heß als verantwortlicher Herausgeber. Diese Briefedition wird stets ein Vorbild für ähnliche Editionen bleiben. Einen Zugang zum Werk Leibnizens auch für Wissenschafter ohne Latein- oder Französisch-Kenntnisse eröffnen seit 2011 die von ihm und M.-L. Babin übersetzten und kommentierten mathematischen Zeitschriftenartikel von Leibniz. An seinem umfangreichen Wissen über Kant und Leibniz ließ Heß Fachgenossen und Laien in zahlreichen Tagungsbeiträgen und Vorträgen großzügig teilhaben. Nun ist Heinz-Jürgen Heß für uns alle überraschend am 1. Januar 2024 verstorben.

Mit der Basler Bernoulli-Edition war Heinz-Jürgen Heß seit 1985 eng verbunden. Er war maßgeblich an dem erfolgreichen Vorstoß einer Gruppe internationaler Fachleute beteiligt, welche nach einer Tagung in Trient die Errichtung einer Forschungsstelle für die Bernoulli-Edition forderten. Ein auf Initiative von Heß und dem Unterzeichneten 1987 organisiertes und international besetztes gemeinsames Kolloquium der Leibniz-Gesellschaft und der Bernoulli-Edition in Basel unterstrich die Bedeutung einer gesicherten organisatorischen Basler Basis für die Bernoulli-Briefwechseledition. Groß war daher die Genugtuung, als der Schweizerische Nationalfonds den auch von Heß unterstützten Vorschlag aufnahm und die Finanzierung einer solchen Forschungsstelle genehmigte. Heß war dann auch einer der Initianten der Gründung des Vereins zur Förderung der Bernoulli-Edition als Trägerinstitution dieser Forschungsstelle. Die Stelle konnte 1988 in Basel eingerichtet werden und widmete sich bis 2010 speziell der Erschließung und der Edition der Briefwechsel der Basler Mathematiker. Seit der Einrichtung eines Bernoulli-Euler-Zentrums an der Universität Basel im Jahr 2010 wird ihre Arbeit in dieser Institution fortgesetzt, während die Funktion des Bernoulli-Fördervereins an die Bernoulli-Euler-Gesellschaft übergegangen ist.

Lange Jahre gehörte Heinz-Jürgen Heß dem wissenschaftlichen Beirat der Bernoulli-Edition an. Er vertrat in diesem Gremium stets die hohen Standards bei wissenschaftlichen Editionen, die ihn selbst leiteten, und versuchte, diese auch bei der damaligen Editionsleitung beliebt zu machen. Mit immensem Sachverstand und kritischem Weitblick setzte er sich besonders für die Belange der Bernoulli-Briefwechsel-Edition ein. Von seinem Interesse an der Arbeit der Bernoulli-Edition insgesamt zeugen auch seine stets kritischen und doch wohlwollenden Rezensionen zahlreicher Editionsbände. Als jedoch in der damaligen Editionsleitung Intransparenz und Beratungsresistenz bei personellen und strategischen Planungen immer mehr zunahmen, verließ Heinz-Jürgen Heß zusammen mit der Hälfte der Mitglieder den wissenschaftlichen Beirat der Bernoulli-Edition. Der Briefwechsel-Edition blieb er jedoch weiter verbunden und begleitete die Edition privat mit Rat und Tat. Sein scharfsichtiger Blick auf Fehler und Versäumnisse war hier stets willkommen und half, die editorische Arbeit auf einem vorzeigbaren Standard zu halten.

Mit Bedauern verfolgte Heß den von ihm vorausgeahnten Niedergang der Otto Spieß-Stiftung als Trägerin der Bernoulli-Werkedition, die von ihrem damaligen Präsidenten in die Insolvenz geführt wurde. Mit Genugtuung nahm Heß aber zugleich auch die Nachricht auf, dass die Bernoulli-Briefwechsel-Edition vom Schweizerischen Nationalfonds in einem neuen Projekt unter der Leitung von Gerd Grasshoff und dem Unterzeichneten weiter gefördert wurde. Die Briefwechsel-Edition konnte somit durch die Mitarbeiter, welche ihre Zusammenarbeit mit der alten Organisation rechtzeitig aufgekündigt hatten, erfolgreich in das digitale Zeitalter überführt werden. Die zusammen mit der Universitätsbibliothek Basel erstellte digitale Basler Edition der Bernoulli-Briefwechsel konnte jetzt zahlreiche, mit Heß geteilte editorische Desiderata erfüllen. Sie fand somit erfreulicherweise auch die Zustimmung unseres hoch kompetenten und hochgeschätzten Kollegen.

Die Basler Bernoulli-Edition und auch das Bernoulli-Euler-Zentrum an der Universität Basel gedenken in Dankbarkeit der Aktivitäten und des Einsatzes von Heinz-Jürgen Heß für die editorischen und organisatorischen Belange der wissenschaftlichen Arbeiten in Basel. Wer Heinz-Jürgen Heß kannte, wird ihn als kritischen Begleiter und als guten Freund vermissen und ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren.

Fritz Nagel, Basel am 5. Januar 2024

 

Heß, Heinz-Jürgen: Rezensionen zu Bernoulli- und Euler-Editionen

Rezension von Johann (I) Bernoulli: Der Briefwechsel. Bd. 3: Der Briefwechsel mit Pierre Varignon. Zweiter Teil: 1702-1714, von Jacob u. Johann (I) Bernoulli: Die Streitschriften. Variationsrechnung und von Jacob Bernoulli: Die Werke. Bd. 2: Elementarmathematik. In: Studia Leibnitiana XXV (1993). Stuttgart 1993, S. 125-128.

Rezension von Leonhard Euler: Sol et Luna II. (Opera omnia II, 24) und Commercium epistolicum cum P.-L. M. de Maupertuis et Frédéric II. (Opera omnia IV A, 6). In: Studia Leibnitiana XXIV (1992). Stuttgart 1992, S. 228-231.

Rezension von Silvia Mazzone, Clara Silvia Roero: Jacob Hermann and the Diffusion of the Leibnizian Calculus in Italy. In: Archives internationales d'histoire des sciences 48 (1998). Rom 1998, S. 415-416.

Rezension von Euler, Leonhard: Briefwechsel mit Johann (I) Bernoulli und Nikolaus (I) Bernoulli. Commercium epistolicum. (Opera omnia IV A, 2). In: Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Science 56 (1999). Basel 1999, S. 310-311.